Ruhe

Man könnte sich ja von der Vorstellung verleiten lassen, so ein Sommer auf der Alp sei streng: Jeden Morgen um fünf aufstehen, Ziegen holen, Käse vom Vortag auspacken, dann die zerschundenen Hände beim Handmelken weiter strapazieren, um sieben Frühstück, weiter geht’s mit Käsen, Misten, bei Wind und Wetter auf irgendwelche Berge hoch Rinder kontrollieren, Käse schmieren, Schweine füttern, Hühnereier suchen, Salz für die Rinder den Berg hoch schleppen, Ställe flicken, Käse kehren, Holzen, Zäunen, in der Nachmittagshitze auf noch höhere Berge hoch die Ziegen holen, dann wieder Melken, Misten, Melkgeschirr waschen, Kochen, Essen, Schlaaaaf – oh schiss huara Wecker, schon fünf!

Und wieder geht’s los: das Morgenlicht geniessen, Zeichnungen in die frischen Käse ritzen, beim ruhigen Handmelken auf der Weide dem Tag beim Erwachen zuschauen, dann richtig hungrig feine Alpbutter, frisches Brot und Alpenrosenmarmelade mit Ziger schlemmen, mit den Ziegen durch wunderschöne Alpwiesen streifen und dabei Heilpflanzen sammeln, in der warmen Käserei ein Molkebad geniessen, mit den Kindern Hühner aus dem Garten jagen, Holzscheiterexplosionen feiern und Eierschwämme suchen.

Was wir hier oben am meisten geniessen, sind wohl der Rhythmus und die Ruhe. Fliegt ein Flugzeug weit oben am Nachthimmel vorbei, so hören wir es. Sternen gibt es abertausende; aus unserem Hochtal raus sehen wir in der Nacht kein einziges künstliches Licht, ausser die Jäger sind zu Besuch in ihrer Hütte am anderen Talende. Eine Strasse sehen oder hören wir sowieso nicht. Empfang haben wir auch nicht. Das weltpolitische Chaos kriegen wir nicht mit. Einziger Lärm, der uns manchmal aus der Ruhe bringt, sind die vielen Ziegenglocken. Das laute Geläut, wenn sie kämpfen, wenn sie spielen, den Berg runter rennen, sich an den Ohren kratzen.

Jetzt hängen die Glocken im Stall, die Ziegenhälse sind frei. Und siehe da, plötzlich hört der Hund den Hirten, folgt viel besser! Der Hirte hört die Vögel, die Geissen ihr Gemecker, der Bach rauscht und der Wind in den Lärchen auch. Die Kinder juchzen und schreien – die hängen wir trotzdem nicht in den Stall.

Letztens ist die Batterie der Solaranlage ausgestiegen. Zu Beginn konnten wir bei strahlendem Sonnenschein noch unsere Handys laden und mit Licht die Käse im Keller pflegen. Dann funktionierten nur noch die Kerzen. Als auch noch der Besuch abbgesagt wurde – wegen Stress im Tal – war die Ruhe komplett. Wir sind entschleunigt und von allen Lastern gereinigt.

Damit es nicht all zu idyllisch wird, haben wir jetzt eine neue Batterie und einen Generator organisiert. Und manchmal, manchmal spielen wir hinter dem Stall heimlich mit der Motorsäge. Einfach, um uns über den Lärm aufzuregen.


Morgenstimmung


Abendstimmung



Stille Glocken


Ausdruck unserer Kreativität auf Käse



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